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Doing Gender

Ein dem doing-gender-Ansatz Rechnung tragendes Unterrichten und Gestalten des Schulklimas sieht sich zunächst widersprüchlichen Grundbedingungen ausgesetzt:

Wenn akzeptiert wird, dass das „Geschlecht“ (gender) Produkt sozialer Kontexte und Interaktionen ist, dann ist damit das Erfüllen der sozial vermittelten und erwarteten Geschlechterklischees durch das Individuum (also den einzelnen Jungen oder das einzelne Mädchen) noch nicht unterlaufen. D.h. der gesellschaftliche Rahmen der Geschlechterstereotypie ist noch nicht mit seiner Entlarvung als sozialem Konstrukt (auch mit Herrschaftsinteressen) ausgehebelt. Mädchen und Jungen wachsen in das sozial konstruierte Geschlechterkonzept hinein und meinen, es erfüllen zu müssen. Indem sie diesem Konzept aber nachkommen, anverwandeln sie sich die ihnen künstlich zugeschriebene Geschlechteridentität. So funktioniert das Genderkonstrukt durch seine affirmative Akzeptanz in der Erfüllung einer genderbezogenen sich selbst erfüllenden Prophezeiung.

D.h.: Die Schule besuchen Schülerinnen und Schüler, die unbewusst das Gender-Konstrukt ihrer Umwelt als Bedingung der Möglichkeit ihrer Identitätsfindung und –gestaltung akzeptieren und es damit scheinbar verifizieren. Auch wenn die Geschlechterkonstruktionen als Scheinkonstrukte kritisch von der Schule (den Lehrerinnen und Lehrern) gegengelesen werden können, halten sich die Schülerinnen und Schüler eben vielfach doch an die außerschulischen Kontextvorgaben stereotyper Geschlechterbilder. So aber werden Schülerinnen und Schüler erst zu dem, von dem sie meinen, es bereits zu sein: zu „echten“ Jungen und Mädchen. Dieser Geschlechtergehorsam lässt sie sich so verhalten, wie vermeintlich typische Jungen und typische Mädchen angeblich wären: die Jungen: dominant, rebellisch, laut, naturwissenschaftlich orientiert, technikaffin; die Mädchen: kommunikativ, gehorsam, unproblematisch, dem Sprachlich-Künstlerischen zugetan.

Dass diese Übernahme der Geschlechterkonstrukte aber stattfindet, bedeutet für die Schule, dass sie auf junge Menschen trifft, die nicht gender-neutral vor ihnen stehen. Tatsächlich zeigen sich dann also auch zum Teil Wirklichkeiten und Strukturen in der Schule, die die gesellschaftlichen Klischeevoraussagen, wie sich die Geschlechter entwickelten, welche Eigenarten, Vorlieben, Stärken und Schwächen sie hätten, in der Schule von Neuem reproduziert.

So empfängt die Schule jeden Tag neu junge Menschen, die Geschlechterrealitäten performieren, die so nicht verwirklicht werden müssten, die aber Grundlage des Schulalltags sind und damit eigene Faktizitätsansprüche stellen.

Die Schule steht also vor dem Paradoxon etwas als Wirklichkeit anerkennen zu müssen, von dem sie weiß, dass es seiner Grundlage nach nur Schein ist.

Wenn Mädchen und Jungen Geschlechtsnormen aber folgen (z.B. indem manche Jungen dominanter auftreten als Mädchen oder manche Mädchen sich in naturwissenschaftlichen Fächern weniger als Jungen zutrauen), kann Schule nur versuchen, je individuell auf den einzelnen Schüler, die einzelne Schülerin bezogen den Lern-, Erfahrungs-, und Karriereraum so zu öffnen und offen zu halten, dass trotz des Gendergehorsams individuell so viel wie möglich offen bleibt.

Konkret bedeutet das: Keiner Schülerin und keinem Schüler soll die Entdeckung eigener (vielleicht unerwarteter) Verhaltensmöglichkeiten, Interessen, Fähigkeiten und Fertigkeiten verschlossen bleiben, weil sie das von sich „als Mädchen“ oder er das von sich „als Junge“ nicht erwartet hätte. Und so erwarten also Lehrerinnen und Lehrer von den Schülerinnen und Schülern nicht etwas unter Bedingung ihrer Geschlechtszugehörigkeit, sondern sind offen für sie als ihnen begegnende Individuen. So ist die Offenheit der Lehrerinnen und Lehrer das, was Schülerinnen und Schüler innerschulisch (und darüber hinaus) offen machen kann (was ihnen andernfalls verschlossen bliebe). Die pädagogische Offenheit öffnet mithin die enge Scheinrealität des Geschlechts. Diesem Ansatz der pädagogischen Offenheit ist die Marienschule – ob in koedukativen oder monoedukativen Klassen – verpflichtet.

Dr. Ansgar Hoff